Die Midlife-Crisis ist ja die Dirty Old Lady unter den Daseins- und Lebensabschnittskrisen. Seit Jahrzehnten bekannt und ausgeleuchtet, lockt die olle Vettel angesichts aktueller Worklife-Balance-Hysterien, Aufmerksamkeitsstörungs-Diagnosen, Sexsuchtexegesen und Essstörungsanalysen keinen mehr so recht hinter dem Ofen hervor. Ich jedoch stehe zu diesem Oldstyler unter den Krisen, bringt er mir doch kunterbunte Abende, bei denen ich Dinge mache, die im allgemeinen Stress des Erwachsenwerdens schon längst verschütt geglaubt wurden. Studentenleben reloaded. Totaler Ideen-Extremismus. Reflexhafte Kulturaktivitätsschübe. Schön, dass die Menschen in meiner Umgebung meiner Identitätssuche wohlgesonnen sind und überhaupt lieb und tolerant sind.
Kurzum: dieser Mai war ein hyperventilierender Monat, den ich mit einem würdevollen Konzertabend zu beschließen gedachte.
Also her mit drei Klassikern im Wiener Konzerthaus: Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Ouverture „Die schöne Melusine“ (1833/35), Wolfgang Amadeus Mozart mit dem Klavierkonzert Es-Dur K 482 (1785) sowie Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 8 F-Dur op. 93 (1811/12). Das Orchester: Die Wiener Symphoniker (denen ich an dieser Stelle nicht genug für das berührende Befreiungsfeier-Konzert am 8. Mai am Wiener Heldenplatz danken kann.) Der Dirigent: David Stern, New Yorker und musikalischer Direktor der Israel Opera. Der Star: Robert Buchbinder.
„Die schöne Melusine“, eine Ouverture für eine Oper von Conradin Kreutzer (Libretto: Franz Grillparzer), ist ein verklärt-romantischer Zehnminüter, eine Kurzgeschichte, in der das Schicksal einer Meerjungfrau besungen, in die sich ein Ritter Raimund unglücklich verliebt. Zeit also für wellenförmige Streicherschübe und dunkle Moll-Sequenzen. Drama galore.
Danach wurde der Flügel für Mozart und den großen Klaviervirtuosen ins Zentrum der Bühne geschoben. Buchbinder-Time. Die Ellbogen locker auf die Knie gestützt, pegelte sich der Meister hinter seinem Steinway sitzend während des kurzen Orchester-Intros ein. Die rechte Hand zuckte rhythmisch im Gelenk, das Spiel der Mundwinkel ging mit der Melodie mit – als säße da der Buchbinder Bertl in Trixis Wettcafé und swingt sich durch ein Glenn-Miller-Medley. Mit dem ersten Klavierlauf macht der Vielgerühmte dann auch klar, wie er Mozart ausdeutet. Nämlich als „seinen“ Mozart. Buchbinder lässt keinen Effekt aus, lädt das Stück mit Verzierungen auf, Triller hier, superprickelnder Lauf dort. Großes Theater, dem die Symphoniker geläufig, mit großer Spiellaune zuarbeiten.
Mozart in seiner Höchstphase ist ja nachgerade eine Einladung zum effektvollen Spiel. Und Buchbinder nutzt dafür jede Note. Anfangs ist das noch brillant (und der Klaviersuperstar spielt tatsächlich brillant), doch spätestens ab der Mitte des Stückes sind die Ohren zu. Alles ist Aussage, nichts Andeutung. Schicht um Schicht stapelt Buchbinder die allerfettesten Leckereien, das Publikum dankte für die Labung mit großem Applaus – wir gingen pappsatt in die Pause und machten einen Verdauungsspaziergang Richtung Weinbar.
Die Symphoniker hatten nach der Süßspeisendegustation die undankbare Aufgabe, Beethoven Gehör zu verschaffen. Die relativ unbekannte Symphonie Nr. 8 sorgte dann wieder für Ordnung und erbrachte wieder einmal den Beweis, dass Beethoven der absolute Schlüsselspieler in der Geschichte der Musik ist. Zwar fehlen der Komposition die großen, zwingenden Momente. Doch allein die Vielschichtigkeit des Stückes, dieses Gefühl des daran Anteilnehmendürfens, wie da einer immer wieder mit sich ringt, dem Kanon etwas Neues, Richtungsweisendes abzuringen – das allein ist schon ein großer Moment.
Würdiger Abschluss, freaky Mai.