Was muss eine Kunstausstellung leisten? Kann und darf sie sich darauf beschränken, das Werk eines Künstlers zu präsentieren und dessen kunsthistorische Bedeutung zu feiern? Oder sind Ausstellungsmacher auch dem Auftrag verpflichtet, das Œuvre eines Autors in einen politischen, gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen, die Bedingungen seiner Entstehung auszuleuchten und auf gewollte oder ungewollte Vereinnahmungen hinzuweisen? Angesichts der Werkschau der Arbeiten des russischen Fotografen, Grafikers, Malers und Kunsttausendsassas Alexander Rodtschenko (1891–1956) im Wiener Westlicht waren diese Fragen durchaus dräuend.
Der Avantgardist durchlief zwischen 1920 und 1950 eine wechselvolle, also nachgerade klassische Karriere eines Künstlers in der UdSSR: Hingebungsvolle Arbeit an der großen, proletarischen Sache, Protegierung durch politische Kader und Idealisierung im Dienste eines neuen Werktätigenideals, ab Mitte der 1930er Nachstellungen durch einen immer paranoider agierenden Kontrollapparat, Arbeitsbeschränkung, Überwachung, Ausschluss aus den kunstpolitischen Gremien. Ab 1942 schließlich trat Rodtschenko den Rückzug in die innere Emigration an. Das Lebenswerk: von einer willfährigen Staatsideologie zerstört und ins Vergessen gedrängt. Die letzten Lebensjahre: voller Zeugnisse tiefer Verbitterung.
Zurecht feiert das Westlicht diese künstlerische Multitalent, das so nebenher Fotografie revolutionierte. Doch der St. Petersburger war nicht nur Revolutionär der schönen Künste, er stellte seine Talente auch in den Dienst des sowjetischen Staatsideologie. Künstler, Politiker, Proletarier, ja, auch Agitator – das war in jenen Jahren eins. Rodtschenko war der Prototyp des genialischen Universalisten – ob, und wann er erkannte, dass er sich einem Terrorregime an den Hals geworfen hatte, mögen Biographen und Historiker beurteilen. Dass er sich in den Dienst eines Systems stellte, das Hunderttausende Menschen bloß auf einen Verdacht hin ermorden ließ oder als Zwangsarbeiter zu Tode brachte, das hat der Künstler spätestens Anfang der 1930er mitbekommen, mitbekommen müssen. Damals fotografierte er die Arbeiten am Weißmeer-Ostseekanals. Zurück brachte er ästhetisierte Proletarier-Romantik, grafisch schön, exzellent inszeniert. Schwer vorstellbar, dass Rodtschenko nicht mitbekam, dass in den Gruben zehntausende politisch Inhaftierte malochten und viele von ihnen dabei den Tod fanden.
Abseits der Frage, ob der Mann nun Mitläufer, Mitwisser oder bloß einer war, der sich ganz seiner Kunst verschrieben hat und von der Mordmaschinerie nichts mitbekam (Als Österreicher kennt man diese Argumentationskrücken ja aus einem anderen Zusammenhang): Die unselige Verquickung von Kunst und Staatsterror wird am Beginn der Schau im Einführungstext zu Leben und Werk bestenfalls angedeutet. Bei einem Künstler jedoch, dessen Schaffen über Jahre hinweg ein Politisches war, ist der historische Kontext mehr als bloß eine biographische Notiz. Mehr Information würde nicht zuletzt helfen, den Bruch in Rodtschenkos Karriere ab Ende der 1930er nachvollziehbarer zu machen. So beschränkt sich die Ausstellung darauf, einen großartigen, richtungsweisenden Fotografen und beeindruckenden Multikreativen vor den Vorhang zu ziehen.
Sehenswert, lohnend ist diese Werkschau alleine deshalb. Ausstellungsdidaktisch hingegen hätte man zumindest einige Brücken hin zum politischen Hintergrund und den nicht immer hehren Motiven für das Entstehen von Kunst schlagen können. Gewiss: Eine reine Kunstschau muss das nicht leisten. Aber sie kann.
Blasmusik-Begleitung beim Bau des Weißmeer-Ostseekanals. Rodtschenko inszeniert die Errichtung als sowjetisches Werktätigen-Idyll, tatsächlich wurden zwischen 1931 und 1933 mindestens 170.000 Häftlinge zur Zwangsarbeit verpflichtet. Etwa ein Viertel überlebte das Martyrium nicht.
An Wladimir Majakowski (*1893) hat Rodtschenko einen Narren gefressen. Gleich mehrere Fotos und Collagen zelebrieren im Westlicht den dichtenden Futuristen. Hier: Klassische Pose des Denkers als geistigen Wegbereiter einer technikvernarrten Moderne. 1930 schied der Agitationslyriker freiwillig aus dem Leben. Er schoss sich mit einer Pistole ins Herz.
Rodtschenkos Titelbild für eine Ausgabe des sowjetischen Fachmagazins „Journalist“.
Das russiche Initial beschreibt treffend die vielfältigen Anforderungen, die dieser Beruf an die ihn Ausübenden stellt. Auch die Offenheit für Einflüsse und Impulse aus allen Richtungen der Gesellschaft ließe sich von der grafischen Gestalt dieses Buchstabens ableiten. „Die Grenze meiner Typo ist die Grenze meiner Welt“, könnte man sagen. Gedankenakrobatik, allenthalben.