Linz? Von Pöstlingberg, Westautobahn und Voest-Fabriksgelände eingefriedete Tristesse. Die Landstraße: Schlecht hektographierter Liebreiz der Grazer Innenstadt. Der Hauptplatz: Aufbackversion diverser Zentren noch diverser Bezirkshauptstädte. Die Menschen: zählen zu den freundlichsten, unverstelltesten, aufgeschlossensten der Republik – abgeworfen wurden sie jedoch in einer lähmend langweiligen, mit Sechzigerjahre-Wohncontainern vollgestapelten Agglomeration, als deren prickelndster architektonischer Leistungsbeweis das Hinweisschild Richtung Autobahn galt. So war das damals, vor 20 Jahren, wenn es einen in die oberösterreichische Landeshauptstadt verschlug. Heute ist Linz die spannendste Großstadt des Landes. Die einzige, die sich nicht vergangenheitsbesoffen an kulturelle Tradition, die Bewahrung von innerstädtischem Zuckerbäckerstil und mit Souvenirläden vollgeräumter Altstadt-Romantik klammert. Eine Stadt, die sich mangels Bedenkenträgern freispielen und gar nicht anders konnte, als ihr Heil in der Zukunft zu suchen.
Das erste Ars Electronica Festival, vor über 30 Jahren bloß ein Spin-Off der im Vergleich zur Wiener Kulturmaschinerie und dem Festspielreigen an der Salzach bemühten, aber bloß zart ausstrahlenden Brucknerfestspiele, war ein erstes, vielversprechendes Statement. Nicht mehr. Doch je größer, wirkmächtiger das Festival wurde, umso mehr wuchs offenbar die Lust, das Moderne und damit zeitgenössische Kunst zu institutionalisieren. Im Windschatten einer schwierigen, entbehrungsreichen Transformation einer Industriestadt in ein Wirtschaftszentrum von mitteleuropäischem Format setzte die Stadt einen Markstein nach dem anderen: das Offene Kulturhaus, das Lentos, das Ars Electronica Center, schließlich die Inszenierung als Europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2009 .
Und jetzt: das Musiktheater Linz. 180 Millionen Euro teuer. 1200 Sitzplätze. Bereits vor der Eröffnung als Glückfall für die Stadt als auch das Land ausgerufen. Ein Kunsttempel mit Ganzjahresbetrieb, den nach langem, widerwärtigem Gezerre nicht einmal mehr die Lodenjanker- und Wehrsportübungspartei verhindern konnte.
Das Schönste, nachgerade Beeindruckendste ist jedoch, dass der weit ausgreifende, am Volksgarten gelegene Bau trotz seiner Proportionen, nicht in den Verdacht gerät, ein Metall und Stein gewordenes Denkmal der Initiatoren, Architekten, Bauherren und Financiers zu sein. Hier steht kein neureicher Monumentalbau, kein hochbetoniertes politisches Statement, sondern ein schmuckes, sympathisches, selbstbewusstes Gebäude, das sich gar nicht als Konkurrent zu Wien und Salzburg gebärden will, sondern einfach als prächtige Ergänzung im österreichischen Kulturbetrieb verstanden werden will. Zugleich ist es Architekt Terry Pawson gelungen, ein Haus zu konzipieren, das sich zum einen eindeutig als Kulturträger und nicht als aufwändigere Messehalle zu erkennen gibt. Zum anderen passt der Charakter des Gebäudes trefflich zu seiner Umgebung, also Linz. Weder in Salzburg noch in Wien würde diese Architektur funktionieren.
Und damit zum ersten Acid-Test für das ambitionierte Mehrsparten-Haus: Die Oper „Spuren der Verirrten“ von Philip Glass, eine Vertonung des gleichnamigen Stücks von Peter Handke, ein Auftragswerk anlässlich der Eröffnung des Hauses. Das Bruckner-Orchester Linz unter Leitung von Dennis Russell Davies war aufgerufen, David Pountneys Inszenierung mit Glass’schem Wohlklang auszumalen. Mehr als zu hören gab es jedoch zu sehen: Ganz im Gegensatz zum zurückgenommenen Charakter des Hauses war der Regisseur offenbar darauf erpicht, das Werk des Amerikaners als Kampfansage wider die namhaften Bühnen dieser Republik zu positionieren.
Über 2 Stunden 15 Minuten hinweg wurde da ein visuelles Feuerwerk abgebrannt, wurden prächtige Kostüme hergezeigt, das gesamte Arsenal an knalligen Bühnen-Effekten aufgefahren. Dazu gab’s viel zeitgenössischen Tanz (Ballett des Landestheaters), dem gefühlt sämtliche Chöre des Landes zuarbeiteten (Chor und Extrachor des Landestheaters, Kinder- und Jugendchor des Landestheaters, Gastchöre des Landes Oberösterreichs), sogar die Zuseher wurden einbezogen (ein Schauspieler gab, stellvertretend, die Stimme des Publikums; ein alter Handke-Schmäh). Es schien, als hätte sich Poutney den Auftrag auferlegt, den ultimativen Leistungsbeweis anzutreten, um die teuren Investitionen in Bühnenmechanik und Lichtspiele zu rechtfertigen. Die Drehbühne lief auf Dauerrotation, aus dem Schnürboden wurde im Akkord Buntes, Irisierendes abgesenkt und wieder in den selbigen gehievt. Von den Seiten strömten Dutzende Komparsen und Sänger herzu und traten nach Kurzgastspielen wieder ab. Jedes Bild eine neue, pralle visuelle Phantasmagorie. Da wollte einer sicher gehen, dass riesenlettergroße Nachfragen der Gratis- und Toilettenpostillen ausbleiben: Wofür die teure Technik? Warum das neue Haus, wenn’s dann ohnehin nur ein subtiles Kammerspiel gibt? Stattdessen also André Heller con Vollgas, sicherheitshalber.
Dabei hätte ausgerechnet Handkes sperrige Textvorlage viel Luft und den ein oder anderen kontemplativen Moment benötigt, um zur Geltung zu kommen. Opern-Libretti sind ja ohnehin meist bloß ein Drahtgestell, auf der die Musik rankt. Hier ist der – im Vergleich zu Bühnenstück eingekürzte Text – bloß eine Reihe von vertonten Slogans. Philip Glass hingegen ist Philip Glass. Samt den charakteristischen, repetitiven Streicherschüben mit hohem Fagott- und Oboen-Anteil. Immer wieder tauchen in die „Spuren der Verirrten“ Melodiebögen mit hohem Wiedererkennungsfaktor auf – oder sind einem gewisse Sequenzen, abgewandelt, aus anderen Glass-Stücken einfach schon längst vertraut?
Als dann im letzten Akt auch noch das Orchester aus dem Graben geliftet wird und die Musiker von der so entstandenen Vor- auf die Hauptbühne wechseln (die Drehbühne dreht und dreht sich), hat man endlich alle technischen Spezialitäten des Hauses vor Augen geführt bekommen. Nun ist gewiss: jeder Cent wurde gut investiert. Nun ist auch gewiss: Da wollten einige viel zu viel, das Musiktheater Linz, ein bestens veranlagter, vielversprechender Debütant hat schlichtweg überpowert. Sehens- und erlebenswert war die Premiere allemal. Nicht zuletzt aber war dieser Abend der Erweckungsmoment für eine echte Alternative in der heimischen Kulturlandschaft. Was die Landeshauptstadt, was das neue Haus in den nächsten Jahren daraus macht, weiß nur die Zukunft. Aber um die ist es in Linz gut bestellt.