Anna Karenina.

Um gleich das Wesentliche zu klären: Ich bin Tolstoi-Dogmatiker. Bei Anna Karenina, jenem im Jahr 1878 erschienenen Roman, den die Literaturkritik heute als „Opus Magnum“ und ergo Weltliteratur bezeichnen würde, bin ich nicht nur Dogmatiker, sondern radikaler Fundamentalist. Schlicht, weil Anna Karenina – Dostojewski hin, Nabokov her – mein Lieblingsbuch ist.

1000 Seiten Welterklärung, aufgefädelt am Schicksal einer Frau, deren perfektes, wie ein gut geöltes Maschinchen dahin surrendes Leben in der feineren russischen Gesellschaft zwischen dem lodernden, dann erkalteten Begehren zum Grafen Wronski, dem Pflichtgefühl gegenüber ihrem Gatten Alexej Karenin, der Liebe zu ihrem kleinen Sohn Serjoscha und vor den Augen einer geifernden, zugleich in Ritualen erstarrten Aristokratie langsam, quälend langsam zermalmt wird. Große Gefühle, großes Drama, das alles angerichetet vor dem Hintergrund eines sich Ende des 19. Jahrhunderts noch suchenden, zwischen Politik und Religion oszilierenden Bildungsbürgertums.

Leo Tolstoi – und das ist seine eigentliche Kunstfertigkeit – benennt nicht, er lässt erahnen. Das ist groß – und vor allem russisch. Selbiges ist  keine Eigenschaft, sondern ein unerklärliches, diffuses Gefühl, das sich einem wie ein dunkler Schatten über die Seele legt. Manche sind dagegen immun, doch viele schlägt es einfach in Ketten. Henry Miller charakterisierte in einem seiner Romane eine Figur mit einem einzigen Satz: „Er las die Russen.“  Wer jetzt, in diesem Moment eine komplette Persönlichkeit vor seinem geistigen Auge auferstehen sieht, der ist für die Russen verloren. Nun. Ich bin ein Russe. Schuld hat Tolstoi.

Mein Ressentiment gegenüber dem Theaterstück „Anna Karenina„, seit November ein veritabler Erfolg am Wiener Volkstheater, war also das allergrößte. Einen Riesen-Roman auf zweieinhalb Stunden Bühne einzudampfen – das kann einfach nicht gut gehen. Aber zum einen gab’s auf verschlungenen Wegen Regiekarten (Danke, Tiger) und zum anderen mag ich das Volkstheater als solches, genauer sein Publikum. Das ist im besten Sinne normal, aber nicht gewöhnlich. Man lässt sich nicht nieder, sondern setzt sich einfach hin. Man ist nicht erfreut, sondern freut sich. Man duftet nicht, sondern ist einfach parfümiert. Das alles kontrastiert ganz herrlich zum verblühenden Zuckerbäckerstil des Zuschauerraums. Schauen Sie sich das an!

Auch wegen „Anna Karenina“. Und nein, ich bin nicht nach einem einzigen Theaterabend von der reinen Lehre abgefallen. Das eingangs, in viel zu langer Länge Ausgeführte, gilt noch immer. Aber es gibt nicht nur ein Ja oder Nein, sondern vor allem ein Sowohl als auch. Regisseur Stephan Müller erliegt gar nicht erst der Versuchung, die 1000 Seiten auf Bühne zu übersetzen, sondern meisselt die drei Haupt- und Beziehungsstränge der Theaterfassung von Armin Petras gekonnt heraus: Jenen zwischen Anna, ihrem Gatten Alexej und dem Liebhaber Wronski, den der jungen, unbedarften Kitty und dem tapsigen Lewin sowie das Eheunglück der treuherzigen Dascha und ihrem notorisch untreuen Stefan. Hier wurde ein tragfähiges dramaturgisches Gerüst aufgestellt. (Die eingestreuten Situationskomik-Einlagen sind schlicht Geschmackssache.) Das einfache, dennoch varible, mit tiefroten Stoffen ausgeschlagene Bühnenbild (Hyun Chu) stellt dann auch ganz bedingungslos Schauspieler und Dialoge in den Mittelpunkt. (Fuck you, Regietheater!, übrigens.)

Große Erleichterung, dass Martina Stilp jenem Bild der Anna Karenina, das ich seit bald 20 Jahren in mir herum trage, sehr, sehr nahe kommt. Den Wandel der Figur von einer sich Disziplin und Strenge auferlegenden Aristokratin, die anfangs mit Vernunft und Ratio den Avancen des Liebhabers widersteht, um sich schließlich tiefer, immer tiefer von ihren Emotionen verschlingen zu lassen, all die Schattierungen, die diese Rolle in sich birgt, beherrscht Stilp vortrefflich. Blöd nur, dass ich vom Grafen Wronski auch eine ziemlich konsistente Vorstellung habe: Roman Schmelzer hat seine Rolle aber mehr als Parvenue der Roaring Twenties, weniger als Rittmeister des Zaren angelegt. Hier fehlte ein wenig das tiefgründige, kurzum das „Russische“. Sehr theatralisch, aber auch mit zu viel Falsett hingegen: Michael Weninger als Karenin. Liebreizend, naiv, quirlig, ein wenig zu stark auf Effekt ausgerichtet: Hanna Binder als Kitty. Bester Mann im Haus an der Zweierlinie (klingt nicht sonderlich schick): Till Firin, der die Figur des liebesnärrischen, liebeskranken Gutsbesitzers Lewin tatsächlich bewohnte.

Nein, Anna Karenina, der Roman, war nicht auf der Bühne des Volkstheaters zu erleben. Wie auch. Vielmehr war ein dramatisiertes Kompendium zu sehen – das aber  ganz vorzüglich über die Rampe kam. Ein versöhnender Theaterabend ohne Längen und einer Pause. Noch zu genießen bis 25. März im Wiener Volkstheater.

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